Ein Mann ging einmal durch den Wald nach Hause, da hörte er ein klagendes Rufen. Vorsichtig schlich er sich näher. Hinter einem Gebüsch sah er einen Tiger, der in eine Falle geraten war.
"Ach, lieber Mann", jammerte der Tiger, "so hilf mir doch hier heraus, ich kann mich nicht selbst befreien!"
"Das könnte dir so passen", lachte der Mann. "Du würdest mich ja auffressen, sobald du wieder frei bist."
Der Tiger bat und flehte, er weinte jämmerlich und bettelte um Mitleid, doch umsonst. Der Mann ließ sich nicht erweichen. Da versprach der Tiger ihm ewige Dankbarkeit. "Ich werde dir nichts zuleide tun, solange ich lebe, wenn du mir nur hilfst!" schwor er.
Nun endlich gab der Mann nach und öffnete die Falle. Der Tiger reckte sich, gähnte, und mit einem Satz packte er den Mann.
"Mein Magen knurrt so laut vor Hunger, daß ich dich jetzt gleich fressen muß", brüllte er.
"Du hast mir dein Wort gegeben", sagte der Mann erschrocken. "Doch laß uns die Sache vor einen Richter bringen. Spricht er für mich, so bin ich frei. Entscheidet er für dich, so magst du mich ruhig fressen."
Der Tiger war zufrieden. Zusammen gingen sie weiter und trafen auf einer Wiese einen Ochsen. "Du sollst unser Richter sein", bat der Mann und erzählte ihm alles. Der Ochse dachte lange nach, scharrte dann ärgerlich mit den Hufen und sprach zu dem Mann:
"Seit Urzeiten arbeite ich nun für dich. Ich ziehe den Pflug, schleppe die Lasten und hole das Holz aus dem Wald. Ich diene dir treu und mit aller Kraft. Und der Dank? Bin ich einmal müde oder krank, so werde ich beschimpft und geschlagen. Und wenn ich einst alt bin und meine Arbeit nicht mehr verrichten kann, werde ich geschlachtet und gegessen. Dann kleidest du dich in meine Haut, trinkst aus meinem Horn, füllst Wasser in meinen Magen und nähst mit meinen Sehnen. Und an meinen Knochen nagt dein Hund. Du bist nicht dankbar, also hast du auch keinen Dank verdient. Der Tiger soll dich fressen."
"Das ist ungerecht!" schrie der Mann. "Wir wollen einen zweiten Richter befragen."
Der Tiger war bereit, sich noch ein wenig zu gedulden, und zusammen gingen sie weiter. Unter einem Busch im Feld sahen sie einen Hasen sitzen. Ihn baten sie um die Entscheidung. Der Hase war gleich bereit. "Doch bevor ich ein gerechtes Urteil fällen kann, muß ich sehen, wo sich die Geschichte abgespielt hat. Zeigt mir den Ort."
Der Hase folgte dem Mann und dem Tiger zur Falle. Er sah sich alles lange an, dann sprach er:
"Ihr müßt den Streit noch einmal spielen, damit ich zu einer Entscheidung kommen kann. Jeder gehe darum auf den Platz, auf dem er sich vor dem Streit befand."
Der Mann stellte sich hinter den Busch, der Tiger aber ging in die Falle. "Nun, Tiger, war die Tür offen oder geschlossen? Zeig mir, in welcher Lage sie war, als der Mann dich fand", befahl der Hase. Arglos schloß der Tiger die Tür, die er nun von innen nicht mehr öffnen konnte. Lachend hoppelte der Hase davon, und der Mann ging fröhlich nach Hause.
Und kein Bitten und kein Flehen brachte den Tiger mehr aus der Falle heraus. Nun hatte er genug Zeit, seine Undankbarkeit zu bereuen.